Montag, 17. Dezember 2012

„Ich muss gestehen, ich fühle mich sehr schlecht in meiner Zeit“

Vortrag. Dzevad Karahasan: DIE SCHATTEN DER STÄDTE. Sa. 15.12, 18:00.

Dzevad Karahasan
Branko Simic, Kurator des KRASS-Festivals, beschreibt ihn als einen „Vorzeigemann aus unserem Land“: Dzevad Karahasan, geboren 1953 in Duvno/ Jugoslawien, war sein Professor an der Akademie für Szenische Künste in Sarajevo und heute Abend ist er in Hamburg. Er liest aus seinem Buch „Berichte aus der dunklen Welt“, zunächst ein wenig auf Bosnisch, und dann aus der deutschen Übersetzung. Er spricht langsam, gestikuliert nur wenig und sehr gesetzt. Nach den ersten zehn Minuten kündigt Professor Karahasan an: „Ich werde die Geschichte nun abkürzen, denn so lehrt die Rhetorik“,  schmunzelt, überspringt einige Seiten und liest noch einmal eine halbe Stunde. Er ist ungeheuer sympathisch. 


Die Geschichte handelt von drei Freunden. Einer von ihnen erzählt eine Geschichte davon, wie er selbst die Geschichte von einem türkischen Stadthalter in Bosnien recherchierte und sich im Zuge dessen an eine Fabel erinnert, die ihm seine Großmutter zu erzählen pflegte. Eine wahre Geschichtenflut. Worum es eigentlich geht? Darum, dass kein Mensch wissen kann, wann er seinem Schicksal begegnet. Die Erzählung ist schön, Professor Karahasan schreibt, wie er selbst sagt, „sehr barock“, in ewig langen Sätzen. Aber die Lesung ist eigentlich erst der Anfang, jetzt kommt die Theorie.


Ist die Fragerunde normalerweise ein Veranstaltungsanhängsel, bei dem man schon mit den Füßen scharrt, so ist sie hier der Höhepunkt.  Der Professor (selten habe ich jemanden gesehen, der so sehr meine Erwartungen an einen Professor erfüllte) spricht vom existenziellen Unbehagen des mit Sprache und Geist verfluchten Menschen. „Ich muss gestehen, ich fühle mich sehr schlecht in meiner Zeit“ und doch erklärt er, können wir nur Menschen sein, solange unsere kulturelle Identität keine Selbstverständlichkeit ist. Im Gegensatz zu einer Niere, zum Beispiel: Wenn du spürst, dass du eine Niere hast, dann bist du wahrscheinlich krank.  Und wenn du deine kulturelle Identität und alle damit verbundenen Fragen (altbekanntes Beispiel: Wieso lebe ich hier und jetzt?) nicht mehr spürst, auch dann bist du krank. 


Er spricht von Sarajevo, einer Stadt in der vier Religionen zusammenleben und in der es vielleicht „Toleranz ohne Gleichgültigkeit“ gibt. Davon, dass eine Stadt nur dann wirklich multikulturell ist, wenn alle dort zuhause sind und darauf verzichtet wird, von den Menschen Anpassung zu erwarten. Wirklich Kommunikation kann nicht durch den heutigen Drang zur Vereinfachung, zur reinen Funktionalität erreicht werden, sondern nur, wenn wir uns unterscheiden. Multikulturalität wird immer dann zerstört, wenn sich eine Partei im Besitz einer einzigen, endgültigen Wahrheit glaubt. „Ich habe nichts davon, wenn alle sich einen Bart wachsen ließen und sich einige Sprachfehler aneigneten, um so zu sein wie ich. Ich bin meiner satt!“ Das sagt der Professor auch jedem neuen Jahrgang von Studenten: Es gäbe nicht viele Regeln, aber: „Bitte! Seien Sie nicht meiner Meinung.“ Schwierig. Denn ich habe lange niemanden mehr so überzeugend und klug sprechen hören.

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